Vielleicht ist die Welt, wie wir sie kennen, viel mehr als nur ein Spielplatz politischer Kräfte. Vielleicht ist sie ein lebendiges Gleichnis, geschrieben von einer Weisheit, die tiefer reicht, als es uns oft bewusst ist.
Stellen wir uns vor, Russland sei die große, uralte Mutter. Voller Tiefe, Geheimnisse und Geduld. Eine Mutter, die ihre Kinder mit großer Kraft durch die Zeiten getragen hat — sie genährt, beschützt, geformt. Ihre Liebe ist nicht immer sanft, manchmal fordernd, manchmal hart, doch immer tief verwurzelt in der Verbundenheit.
Und vielleicht stehen die Vereinigten Staaten von Amerika für den Vater: stark, forschend, freiheitsliebend. Ein Vater, der den Blick nach vorne richtet, der die Kinder ermutigt, mutig in die Welt hinauszuziehen, eigene Wege zu gehen, Neues zu erobern, zu wachsen, unabhängig zu werden.
Zwischen Mutter und Vater, so wie im Leben vieler Familien, entstand mit der Zeit ein Bruch. Die Kinder — die Staaten Osteuropas — wurden in die Freiheit entlassen. Doch die Trennung schmerzte. Die Mutter wollte sie halten, der Vater sie fortführen. Beide aus Liebe, beide in Sorge, beide aus der eigenen Perspektive. Und so entbrannte ein leiser, später lauter werdender Streit um ihre Herzen, ihre Wege, ihr Wohl.
Es ist ein Kampf, den keiner gewinnen kann. Denn Liebe lässt sich nicht erzwingen, und Freiheit nicht aufhalten. Und während Mutter und Vater in diesen Schmerz verstrickt sind, stehen die Kinder dazwischen, verletzt, unsicher, oft zerrissen.
Doch vielleicht wusste Gott um diesen Schmerz. Vielleicht wusste er, dass dieser Streit mehr als nur weltliche Ursachen hat. Dass es um etwas viel Tieferes geht — um Heilung, um Versöhnung, um eine neue Art, miteinander zu leben.
Und so sandte er seine Mutter. Sanft, still, liebevoll. Eine Mutter, die nicht von dieser Welt ist, und doch für alle da. Sie erschien in Fatima — jenem kleinen Ort, der geographisch wie symbolisch zwischen Ost und West liegt. Zwischen Mutter und Vater.
Die Botschaft war einfach: Liebe. Frieden. Gebet. Vertrauen.
Vielleicht liegt darin die leise Einladung, das Kämpfen zu beenden. Die Waffen der Worte, der Ansprüche, der Ängste niederzulegen. Und sich zu erinnern: Mutter und Vater gehören beide zusammen. Auch wenn ihre Wege verschieden sind, so bleiben sie doch verbunden. Und die Kinder, die einst aus dieser Einheit geboren wurden, tragen beide in sich: die Tiefe der Mutter und den Mut des Vaters.
Die Welt wartet nicht auf Sieger. Sie wartet auf Heilung. Und auf das große, stille Ja zur Liebe.
In der eisigen Kälte der Antarktis zeigt uns die Natur ein stilles, tiefes Gleichnis für das, was menschliche Gesellschaft eigentlich ausmachen sollte. Pinguine überleben die klirrende Kälte nur, indem sie sich zu einem engen Kreis zusammenschließen. Dabei bleibt keiner immer an der wärmenden Mitte, und keiner bleibt ewig am eisigen Rand.
Sie wechseln. Einer nach dem anderen. Denn nur so überleben alle.
Wer zu lange in der Mitte bleibt, während andere am Rand erfrieren, zerstört die Gemeinschaft. Und wer zu lange am Rand bleibt, ohne jemals nach innen zu dürfen, stirbt. Die Pinguine haben begriffen: Das Zentrum gehört nicht einem Einzelnen, sondern dient dem Leben aller. Die Mitte muss geteilt werden.
Auch der Mensch ist ein Gemeinschaftswesen. Von der Familie über die Gesellschaft bis zur Weltgemeinschaft stehen wir vor der gleichen Frage: Wer nimmt welchen Platz ein? Und: Wer beansprucht die Mitte?
In Platons Der Staat taucht der Gedanke auf, dass wahre Gerechtigkeit dann entsteht, wenn jeder den Platz ausfüllt, den er für das gemeinsame Wohl am besten ausfüllen kann — ohne dabei Macht oder Vorrechte für sich selbst zu beanspruchen.
Doch in der Realität erleben wir oft das Gegenteil: Wirtschaftskonzerne, politische Parteien, Ideologien oder Einzelne reißen die Mitte an sich. Sie setzen sich ins Zentrum der Macht, des Geldes, der Meinungsbildung.
Dabei passiert genau das, was die Pinguine verhindern: Die, die zu lange in der Mitte bleiben, entziehen den anderen die Wärme. Und langsam stirbt der Rand. Und was am Rand stirbt, wandert immer weiter nach innen — bis am Ende die ganze Gemeinschaft erfriert.
Wenn wir tiefer schauen, zeigt sich ein noch größeres Bild: Im Paradies stand der Baum des Lebens in der Mitte. Die Mitte gehört von Anfang an Gott, nicht dem Menschen. Wenn Gott nicht mehr das Zentrum ist, versuchen Menschen, diese Leerstelle zu füllen — mit Macht, Reichtum, Wissen, Kontrolle. Das Ergebnis ist immer Trennung, Ungerechtigkeit und letztlich der geistige Tod der Gesellschaft.
So lehrt uns die Schöpfung: Die Mitte ist ein heiliger Ort. Sie ist nicht Besitz, sondern Berufung. Sie ist nicht ein Platz für wenige, sondern Quelle für alle.
Die Pinguine haben es verstanden. Eine gesunde Gesellschaft kann es auch verstehen. Und jeder Mensch ist eingeladen, es im eigenen Herzen zu leben:
Nicht sich selbst ins Zentrum zu stellen, sondern Gott. Nicht an der Macht zu kleben, sondern die Plätze zu teilen. Nicht nur zu nehmen, sondern zu geben. So bleibt das Leben in Bewegung, im Gleichgewicht — und die Gemeinschaft überlebt, nicht trotz der Kälte, sondern wegen der Liebe.
Meine lieben Kinder,
ich bin gekommen, weil euer Vater im Himmel euch nicht vergessen hat. In seiner unendlichen Liebe sieht er euren Schmerz, eure Verwirrung, eure Zerrissenheit. Ich komme nicht mit Drohungen, nicht mit Angst. Ich komme mit einem Ruf, leise, wie das Flüstern des Windes, zart wie das Licht der Morgendämmerung. Ich komme als Mutter. In der Welt hat sich vieles verdichtet, was aus der Tiefe der Zeit heraufwirkt. Kriege, Spaltungen, das Ringen um Macht. Ich habe euch in Fátima drei Geheimnisse anvertraut — nicht, um euch zu erschrecken, sondern um euch zu erinnern.
Ich habe euch gezeigt, was geschieht, wenn die Liebe aus den Herzen verschwindet. Wo Hass, Stolz und Gewalt wohnen, bleibt die Seele kalt. Doch ich habe euch auch gesagt: viele Seelen gehen verloren, weil niemand für sie betet. Meine Kinder, betet. Die Liebe heilt, selbst was verloren scheint.
Ich zeigte euch, dass die Menschheit sich verirrt, wenn sie Gott vergisst. Es war nicht Strafe, was ich euch offenbarte, sondern die Konsequenz des geteilten Herzens. Russland, die große Mutter unter den Völkern, hat tief gelitten. Ihre Berufung war nicht Unterwerfung, sondern geistige Tiefe. Doch der Vater – in der Gestalt Amerikas – zog mit Kraft und Freiheit. Aus Liebe, doch auch aus Schmerz entstanden Spaltungen. Ich bat darum, dass Russland meinem unbefleckten Herzen geweiht werde – nicht aus politischen Gründen, sondern weil die Welt die heilende Kraft der Weiblichkeit vergessen hatte. Es ging nicht um einen Staat – sondern um ein Prinzip: um die Rückkehr der göttlichen Ordnung, in der das Männliche und Weibliche in Liebe einander ergänzen.
In einer Welt, die sich selbst ins Zentrum stellt, stirbt die Liebe. Wie bei den Pinguinen, die nur überleben, wenn sie die Mitte teilen, so kann auch die Menschheit nur leben, wenn sie die Mitte nicht als Macht, sondern als Gabe erkennt. Die göttliche Mitte gehört niemandem – sie ist heilig, sie ist Gott. Ich bin gekommen, weil der Mensch dabei ist, das Zentrum zu verlieren – und mit ihm seine Seele. In Kirchen, in Familien, in Gesellschaften, in Nationen – überall seht ihr, wie der Kampf um die Mitte zunimmt: Wer herrscht? Wer hat recht? Wer gehört dazu?
Doch meine Kinder: Die Mitte gehört nicht dem Lautesten. Nicht dem Stärksten. Nicht dem Reichsten. Die Mitte gehört der Liebe. Und die Liebe ist euer Vater im Himmel. Er zwingt sich nicht auf. Er wartet. Geduldig, still, frei.
Ihr seid dazu geschaffen, ihm Raum zu geben. In euren Gedanken – die der Vater sind.
In euren Worten – die der Sohn sind.
In euren Taten – die der Heilige Geist sind.
Wenn ihr Gott wieder in die Mitte stellt, wird Heilung geschehen:
Der Bruch zwischen Mutter und Vater, zwischen Russland und Amerika, war nie endgültig. In euch lebt beides – die Tiefe der Mutter und der Mut des Vaters.
Ich bin gekommen, weil Gott ruft.
Nicht mit der Stimme des Zorns, sondern mit der Stimme der Liebe. Er möchte die Mitte sein – nicht als Herrscher, sondern als Herz. Meine Kinder, die Welt braucht keine Sieger mehr. Sie braucht Heilung. Ich bin mit euch. Ich gehe mit euch. Und in der Mitte wartet er – der, der euch zuerst geliebt hat.
Eure Mutter
Der Weltwasserbaum ist eine Vision des Weimarer Freigeistbundes.
21.12.2017